Der Maulbeerbaum by Danella Utta

Der Maulbeerbaum by Danella Utta

Autor:Danella, Utta [Danella, Utta]
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Tags: Roman
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2014-05-28T05:43:35+00:00


Die Stunde der Wahrheit

Gemeinhin fürchten die Menschen außer dem Tod nichts so sehr wie Krankheit. Allein das Wort ist so abscheulich wie der Zustand. Krankheit – was für ein kümmerliches, elendes Wort, es hat keinen Klang, kein Gesicht, es ist ein übler Wortbastard, um den man am besten einen Bogen macht. Ein Wort, das unbiegsam scheint, und dennoch alles einschließt, was zu diesem Begriff gehört, von der kleinen Unpässlichkeit über ekelerregende Widrigkeiten bis zum schweren schmerzhaften Leiden, bis zum Zerfall des Körpers und der Seele.

Aber da der Mensch voller Widersprüche ist, geschieht es, dass alles, was ihm begegnet, womit er zu schaffen hat, widerspruchsvoll wirken kann. So kommt es, dass auch Krankheit ihren negativen Sinn verlieren kann und sich ganz im Gegenteil zum Wohle, zum Heil eines Menschen auswirken kann.

Krankheit kann manchmal einen Ausweg bieten aus einer scheinbar ausweglosen Situation, sie kann zumindest zu einem Umweg werden, an dessen Ende der Mensch sich selbst, seinem echten Sein wiederbegegnet. Unser aufgeklärtes Zeitalter hat den Begriff von der »Flucht in die Krankheit«, geprägt und hat damit richtig einen Vorgang erkannt, ein wundersames Zusammenwirken von Körper, Seele und Geist oder wie immer man die Zutaten, aus denen ein Mensch sich zusammensetzt, nun nennen will. Eine gequälte Seele, ein resignierender Geist, die nicht weiter wissen, erhalten Hilfe von ihrem Körper, der an diesem Leid ja nicht beteiligt ist, aber, so könnte man es vielleicht interpretieren, es nicht mehr mit ansehen will und kann, allein deswegen, weil man ihn vernachlässigt oder schlecht behandelt; und er, der Körper, scheint zu sagen: »Genug! Ich streike, und ihr seid gezwungen, auf mich zu achten, mir den Vorrang zu lassen; meine Hinfälligkeit, mein Zusammenbruch wird euch hindern, sich weiter nur mit euren Sorgen, euren Ängsten zu befassen. Ich bin es, der Aufmerksamkeit, Fürsorge, Hilfe verlangt. Ihr werdet euch fortan nach mir richten müssen. Ich bestimme den Tag und die Nacht. Ich gebe den Ton an, und ihr werdet schweigen. Das, was euch bedrängt, wird Tage, Wochen, Monate älter geworden sein, bis ihr wieder daran denken könnt. Und um so viel Tage, Wochen, Monate unwichtiger wird es sein. Denn das ist der Lauf der Welt. Das weiß ich, auch wenn ihr es nicht wisst.«

Als Ricarda erkrankte, wurde damit die ausweglose Situation beendet, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte und die geeignet war, das, was von ihr noch übrig war, den Rest ihrer Persönlichkeit und damit den Rest ihres Lebens zu zerstören. Sie geriet nicht in ein Paradies, als sie wieder gesund wurde, neue Konflikte, neue Probleme kamen auf sie zu, denn das ist es nun einmal, was den Begriff »Leben«, ausmacht. Ihre Apathie jedoch, ihr hilfloser, selbstzerstörerischer Groll und Hass auf sich und die Welt, blieben auf dem Krankenbett zurück.

Es war keine so schwere Krankheit. Zunächst nichts weiter als eine böse Grippe, und sie machte sich bemerkbar am Tage, nachdem die Familie Laupholz den Abend bei ihnen verbracht hatte.

Sie hatte sich erkältet. Vielleicht als sie nur mit einer Jacke bekleidet bei null Grad spazieren ging, vielleicht als sie in



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